Teil 2: 30 Jahre Deutsche Einheit in Ottendorf-Okrilla - Erinnerungen von Jürgen Böhme

DER WEG DER GEMEINDE OTTENDORF-OKRILLA ZUR DEUTSCHEN EINHEIT

ERINNERUNGEN VON JÜRGEN BÖHME, DAMALIGER BÜRGERMEISTER

ZU WELCHEN ZEITPUNKT BEGANN SICH DAS ENDE DER DDR ABZUZEICHNEN?

Die einen sagen, mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 und dem daraus resultierendem Protest vieler Künstler und Intellektuellen. Andere wiederum meinen, es war die wirtschaftliche Schwäche und die Devisenknappheit, die sich zu Beginn der 80er Jahre abzeichnete. Der Milliardenkredit von F. J. Strauß eingefädelt, minderte kurzfristig die Probleme, die Abhängigkeit verstärkte sich aber. Die Fälschung der Kommunalwahlen 1989 verschärfte die innenpolitische Situation im Lande.

Im August/September 1989 trug die ständig wachsende Zahl der Menschen, die die DDR über Ungarn und die BRD-Botschaften verließen, zum absehbaren Ende der DDR bei. Der entscheidende Monat für sichtbare Veränderungen sollte der Monat Oktober 1989 werden.

Der 40. Jahrestag wurde zum Desaster für die DDR-Führung: Demonstrationen konnten nur noch mit Gewalt unterdrückt werden. Am 8. Oktober bildete sich die „Gruppe der 20“ in Dresden und forderte die Stadtregierung zu Gesprächen auf. Diese Forderung musste angenommen werden. Am nächsten Tag fand in Leipzig eine Demo mit 70.000 Teilnehmern unter dem Motto „Wir sind das Volk“ statt. Der Bann war gebrochen, die Staatsmacht verzichtete auf Gewalt. Eine Kundgebung am 4. November auf dem Alex in Berlin mit 500.000 Teilnehmern stellte den Führungsanspruch der SED in Frage. Fünf Tage später, eher zufällig, fiel die Mauer in Berlin und wenig später alle Grenzen zur BRD.

WAS WAREN NUN DIE AUSWIRKUNGEN FÜR OTTENDORF-OKRILLA?

Wie in der gesamten DDR zog es die Bürger, entweder für kurze Zeit oder für länger nach Westberlin oder in die BRD. Wer blieb, ging in großer Zahl zu den Montagsdemos nach Dresden. Wiederholt erklang der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Wer mit einigermaßen wachem Verstand die Entwicklung betrachtete, musste erkennen, dass an der deutschen Einheit kein Weg vorbeiführte. Wie in vielen anderen Orten stand auch in Ottendorf-Okrilla die Ev.-Luth. Kirchgemeinde für Veränderungen ein. Einen Auftakt bildete in der Weihnachtszeit eine Spendenaktion für eine Gemeinde in Rumänien.


Weihnachten wurde der Lkw des Brennstoffhändlers und Gemeindemitglied Eberhard Menzel beladen und einen Tag nach Weihnachten startete die Fahrt nach Herrmannstadt. Nach Rückkehr erhielt Eberhard Menzel den „Blumenstrauß des Monats“.


Auch im Ort begannen die Ottendorfer zu handeln, denn Einigung fordert Begegnung. Zwischen den Kirchgemeinden Ottendorf-Okrilla und Bergen in Niedersachsen bestanden seit vielen Jahren Beziehungen einzelner Gemeindeglieder. Im Januar 1990 machten sich die CDU-Mitglieder und Brüder Lothar und Eberhard Menzel auf den Weg nach Bergen um zu sondieren, ob es auch zu einer Partnerschaft zwischen der Stadt Bergen und Ottendorf-Okrilla kommen könnte.


Die Leitung des Rates von Bergen war nicht abgeneigt, weil sich der Versuch, mit Bergen auf Rügen eine Partnerschaft zu beginnen, zerschlagen hatte. Für Februar wurde eine Einladung an den Bürgermeister und die Orts-CDU von Ottendorf-Okrilla ausgesprochen. Im Februar startete eine Delegation – bestehend aus den CDU-Mitgliedern Gunter Enge, Eberhard Menzel, dem Vorsitzenden der Wohnungsgenossenschaft, Karl-Heinz Wiek, und dem Bürgermeister Jürgen Böhme nach Bergen. Der Empfang in Bergen war anfangs distanziert, aber sehr freundlich.

Die Ottendorfer Delegation erhielt einen Einblick in die kommunale Arbeit und die Kommunalgesetzgebung des Landes Niedersachsen. Wir lernten den Bürgermeister Dr. Wegner kennen. Ein Besuch der schönen Stadt Celle rundete den Besuch ab. Die Gastgeber wurden zu einem Gegenbesuch nach Ottendorf-Okrilla eingeladen. Die Zusammenarbeit sollte vertieft werden.

Die kommenden Tage in unserem Ort waren geprägt von der am 18. März bevorstehenden Wahl zur ersten frei zu wählenden Volkskammer. 23 Parteien und Vereinigungen stellten sich zur Wahl. Wie von vielen erwartet setzte sich die Allianz für Deutschland (CDU, DSU, DA) mit 62 % der Wählerstimmen in Ottendorf-Okrilla durch. Die SPD mit 9,9 % und die PDS mit 11,7 % die FDP mit 6,4% und Bündnis 90 mit 3,8 % folgten mit deutlichem Abstand.

Die Stimmung im Ort zeigte ein deutliches Streben hin zur deutschen Einheit. Bis zu den Kommunalwahlen blieben den in Ottendorf-Okrilla bestehenden Parteien bzw. Bündnissen noch 1,5 Monate bis am 6. Mai gewählt werden sollte. Um die Vorbereitungen einer geordneten Wahl zu sichern, wurden an einem „Runden Tisch“ mit allen Beteiligten alter und neuer Bündnissen die notwendigen Entscheidungen getroffen.

Für heutige Verhältnisse ist es fast unvorstellbar, dass sich für 25 Mandate 85 Kandidaten zur Wahl stellten. In diesen Zeitraum fiel auch der Gegenbesuch einer Bergener Delegation.


Bei diesem Treffen wurde vereinbart, nach den Wahlen zum Gemeinderat einen Partnerschaftsvertrag abzuschließen. Die Kommunalwahlen verliefen geordnet mit einer Beteiligung von 80,03 %.

Die Sitzverteilung der 25 Mandate ergab: CDU/CL 12, A-P 5, DSU 4, POS 2, SPD 2.

Ende Mai 1990 erfolgte die Konstituierung des neuen Gemeinderates mit der Wahl des Bürgermeisters und der drei Beigeordneten.

Gewählt wurden:

  • Lothar Menzel, CDU: Bürgermeister
  • Lutz Brehme, CDU: 1. Beigeordneter
  • Lothar Walter, SPD: 2. Beigeordneter
  • Olaf Grundmann, DSU: 3. Beigeordneter

Die Arbeit verlief zu Anfang wie erwartet nicht problemlos. Nach einer Aussage des neugewählten Bürgermeisters waren die ersten Monate erforderlich zur:

  1. Überwindung des Chaos
  2. Stärkung der Verwaltung
  3. Stabilisierung der Arbeit des Rates.

Wenn man heute, nach 30 Jahren zurückblickt und bedenkt, dass der Zeitraum zu vergleichen ist, wie der Prager Fenstersturz 1618 bis zum Westfälischen Frieden 1648 oder dem Beginn des 1. Weltkrieges 1914 bis zum Ende des 2. Weltkrieges 1945. Wir konnten diese Zeit der Wiedervereinigung in Frieden erleben.

Abschließend sollen noch einige Fakten für sich sprechen.

Im Wahlprogramm der CDU von Ottendorf-Okrilla vom 25.04.1990 wurden folgende Ziele für den Ort benannt:

  • Erarbeitung eines Flächennutzungsplanes für unseren Ort mit dem Ziel einer sinnvollen Einordnung von Gewerbe- und Wohngebieten
  • Erhaltung und Ausbau unseres Ortes als Industrie- und Gewerbestandort
  • Verbesserung der Wassersituation
  • Verbesserung des Dienstleistungsangebotes
  • Verbesserung der Lage der älteren Mitbewohner
  • Erhaltung der Kindereinrichtungen und Förderung neuer Formen
  • Verbesserung der Ausstattung der Feuerwehr
  • Förderung des Gemeindelebens auf kulturellem und sportlichem Gebiet
  • Demokratisierung und Durchschaubarkeit der kommunalen Arbeit
  • Intensivierung der Beziehungen zur Stadt Bergen mit dem Ziel einer Partnerschaft

30 Jahre nach Aufstellung der genannten Ziele kann jeder, der guten Willens ist, feststellen, was erreicht wurde. Und wer dabei war, wird mit Recht sagen: „Es hat sich gelohnt!“