Teil 3: 30 Jahre Deutsche Einheit in Ottendorf-Okrilla - Aus der Sicht eines bayerischen Gastes (Josef Veh)

Warum es in Ottendorf-Okrilla eine „Egger Straße“ gibt

Der 3. Okt. 1990 in Ottendorf/Okrilla und der 3. Okt. 1993 aus der Sicht eines Gastes aus Bayern, genauer aus dem Allgäu:

(Egg an der Günz (amtlich Egg a.d.Günz) ist eine Gemeinde im schwäbischen Landkreis Unterallgäu. Der gleichnamige Hauptort liegt etwa 15 Kilometer nordöstlich von Memmingen in der Region Donau-Iller in Mittelschwaben.)

Bevor ich meine Eindrücke, soweit sie noch nach 30 Jahren vorhanden sind, wiedergebe, muss ich doch ein Vorwort vorausschicken: Wie kam es überhaupt zu dieser Verbindung?

Wie so oft im Leben spielte auch hier der "Gott Zufall" eine wichtige Rolle: Meine Frau und ich (Lore und Josef Veh in 87743 Egg an der Günz) besuchten anfangs der achtziger Jahre unsere Tochter in Westberlin, wo sie an der Freien Universität studierte. Natürlich wagten wir einen Besuch in Ostberlin, mussten dazu den schaurig beklemmenden Übergang an der Friedrichstraße passieren. Als wir am späten Nachmittag das abgeschottete Ostberlin wieder verließen, wollten wir unseren Zwangsumtausch von Ostmark in dem Cafe an der Friedrichstraße loswerden. Da fiel uns am Tisch nebenan ein junges Paar auf, das auffällig über ein Faltblatt "Schwerter zu Pflugscharen" redete. Ich drehte mich um, kam mit ihnen ins Gespräch und tauschte mit ihnen unsere Adressen aus. Mit ihnen entwickelte sich über Jahre hinweg ein intensiver Briefverkehr. (Der junge Mann wurde bald darauf wegen Republikflucht ins Gefängnis Bautzen gesteckt; über unseren Bundestagsabgeordneten konnte ich veranlassen, dass er "freigekauft" wurde; er fand nach Jahren in Bad Birnbach/Oberbayern eine Anstellung als Masseur.) Die junge Dame war Christine M. Es gelang ihr, uns noch Ende August 1989 zu sich nach Ottendorf-Okrilla einzuladen. Ich fuhr mit einem Mercedes-Kleinbus mit insgesamt 7 Personen dorthin und wir konnten noch die DDR-Strukturen - zwar schon in den letzten Zügen liegend - persönlich erleben. Zur Wende, genauer zum 1. Gedenktag der Wiedervereinigung (3. Okt. 1990) lud Christine in einem Hilferuf uns ein, mit unserer Trachten-Musikkapelle zur Feier nach Ottendorf-Okrilla zu kommen.

Zum 3. Okt. 1990 mit der Musikkapelle Egg nach Sachsen:

Als ich etwas zögerlich diese Einladung unseren Musikanten vortrug, war ich angenehm überrascht, dass ich nach ersten Bedenken rasch auf Zustimmung, ja Begeisterung, stieß. So packten die etwa 30 Musikanten mit ihren Instrumenten den Reisebus voll und dazu noch etwa 20 Fans. Am frühen Nachmittag trafen wir mit klopfenden Herzen und etwas unsicherem Gefühl in Ottendorf-Okrilla ein. Die Begrüßung mit Christine und dem amtierenden Bürgermeister Lothar Menzel ging schnell aber sehr herzlich vonstatten; dann zogen wir mit klingendem Spiel der 30 Musikanten direkt vor den Platz vor dem Kultursaal, wo schon den ganzen Tag Lustbarkeiten mit Buden und Clowns u.s.w. abliefen. In einem Dankschreiben einige Wochen später erhielt die Musikkapelle folgende Nachricht: "Ihr habt mit eurer Bayerischen Trachtenkapelle vielen Menschen in Ottendorf-Okrilla Freude und Hoffnung gebracht. Dafür danken wir Euch."

Nach einer offiziellen Begrüßung durch den Bürgermeister und einem kurzen Standkonzert wollten die Musiker unbedingt das "Festzelt" sehen, denn dort sollten sie wie angekündigt den Festabend musikalisch ausgestalten. Man führte uns auf eine Wiese, wo zwei mickrige Rotkreuz-Zelte von etwa 3 mal 5 Metern standen. Das Entsetzen der Musiker war riesengroß: Da können wir nicht spielen! Nun kam die Stunde des Ehrendirigenten der Kapelle von Paul St.; er kontaktierte gleich den Bürgermeister, legte ihm die Beschränktheit mit den Rotkreuz-Zelten dar. Bürgermeister Lothar Menzel erkannte die Notlage und bot schweren Herzens den geräumigen Kultursaal an. Doch dieser Saal war der Jugend für diesen Abend für ein Rock-Konzert versprochen. (Diese Entscheidung brachte dem Bürgermeister über Monate hin scharfe Kritik von seiner Gemeindejugend ein.)

Noch ein Problem tat sich auf: Der Wirt, der den Kultursaal betrieb, weigerte sich entschlossen, die Gäste aus dem „Westen“ zu bewirten.

Nun entwickelten die Gastgeberfamilien aus Ottendorf-Okrilla ihre Spontanität und zeigten ihre ganze Herzlichkeit: Sie rannten nach Hause und holten aus ihren Kellern und Speichern alles, was sie an Getränken und Köstlichkeiten hatten. Wir aus dem Westen genossen besonders den "Rotkäppchen-Sekt", den wir nur vom Hörensagen kannten.

Nach den ersten Musikstücken verlangten die Gastgeber von uns Tanzstücke. Und so kam es über die strenge Sitzordnung hinweg zu herzlichen Kontakten und Gesprächen. Zur mitternächtlichen Stunde intonierte die Musikkapelle unter ihrem Dirigenten Bruno Pf. die Deutsche Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland …“ Spontan standen alle im Saal auf, versuchten den Text mitzusingen und nicht wenigen rannten ein paar Freudentränen über die Wangen.

Als wir am 3. Okt. 1993 nochmals mit der Musikkapelle zu Gast waren, fanden wir ein stattliches Festzelt vor und die Kapelle hatte sich von vornherein darauf eingestellt, dass das Volk der Sachsen nicht bloß am Tisch sitzen sondern tanzend und singend sich mit den Gästen verbrüdern will. Die Heimfahrt dauerte damals jedoch wegen Verkehrsstau und wegen des halb defekten Reisebusses die ganze Nacht und wir kamen erst gegen 9 Uhr am nächsten Tag in Egg an. Ein Gegenbesuch aus Ottendorf-Okrilla mit Bus in Egg fand auch statt.

Diese unvergessenen Erinnerungen bleiben, sie sind Bestandteil der gelebten deutschen Geschichte und manch einer wird sich immer wieder fragen, warum es im Gewerbegebiet von Ottendorf-Okrilla eine "Egger Straße" gibt. Wohl um das Jahr 2000 waren die Egger nochmals mit einer Bussgesellschaft in Sachsen zu Gast, wo wir an der "Egger Straße" mit einem Sekt-Empfang begrüßt wurden und zu Mittag bei einer Grill-Party bewirtet wurden.

Text: Josef Veh